Über Stammbücher schreiben. Stand und Perspektiven der Erschließung und Erforschung von Freundschaftsbüchern (16.-19. Jahrhundert)

Über Stammbücher schreiben. Stand und Perspektiven der Erschließung und Erforschung von Freundschaftsbüchern (16.-19. Jahrhundert)

Organisatoren
Niedersächsisches Landesarchiv; Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel
Förderer
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
PLZ
38300
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
22.03.2023 - 24.03.2023
Von
Julia Franziska Freisinger, Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Manu propria scripsit, eigenhändig geschrieben. Unter dem Motto „Über Stammbücher schreiben. Stand und Perspektiven der Erschließung und Erforschung von Freundschaftsbüchern (16.-19. Jahrhundert)“ wurde das Sammelmedium Stammbuch innerhalb einer dreitägigen Veranstaltung unter internationalen und transdisziplinären Forschungsperspektiven beleuchtet und diskutiert.

Einen besonderen Anstoß für diese Tagung, die nach 1978 und 1986 fast schon traditionsgemäß erneut in Wolfenbüttel stattfand, hatten zwei Forschungsprojekte zur Digitalisierung und Erschließung von Stammbüchern gegeben: zum einen die auf drei Jahre angelegte Forschung zum Großen Stammbuch des berühmten Augsburger Kunsthändlers und politischen Agenten Philipp Hainhofer (1578–1647), das 2020 durch die Herzog August Bibliothek (HAB) erworben werden konnte; zum anderen die Digitalisierung und Erschließung der Stammbuchsammlung des Niedersächsischen Landesarchivs (NLA) – Abteilung Wolfenbüttel.

Am 22. März wurden die Teilnehmenden vor Ort und online in den historischen Räumen der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel empfangen: Nach der feierlichen Begrüßung in der Augusteerhalle durch PETER BURSCHEL, dem Direktor der HAB und SABINE GRAF, der Präsidentin des NLA, erfolgte die thematische Einführung von PHILIP HAAS (NLA) und SVEN LIMBECK (HAB).

Das erste Panel widmete sich der Erschließung und Bereitstellung von Stammbüchern: Zentrale Fragestellungen bildeten unter anderem die mediale Definition der Buchgattung als Sammelform unter Berücksichtigung ihrer Charakteristika sowie die fließenden Gattungsgrenzen zu Gäste- oder Besucherbüchern und die große Bedeutung der Nachhaltigkeit bzw. Wiederverwendbarkeit von gewonnenen Daten.

Den Anfang markierte die digitale Edition des Gästebuchs von Elisabeth Sophie Marie von Brauschweig-Lüneburg, die von STEPHAN BIALAS-POPHANKEN (Wolfenbüttel), MAXIMILIAN GÖRMAR (Wolfenbüttel) und JOËLLE WEIS (Trier) herausgegeben wird. Berichtet wurde über das buchförmige Sammelmedium der Erbprinzessin und späteren Herzogin, worin Inskriptionen von Besuchern ihrer Bibelsammlung aus dem 18. Jahrhundert eingeschrieben sind. Thematisiert wurden die Herausforderungen und die methodische Herangehensweise bei der aktuell entstehenden Kommentierung sowie Analyse von Eintragungstexten via ediarum. Es wurden Möglichkeiten zur digitalen Verlinkung der Inskribenten mit Normdaten und zur Visualisierung der Ortsregister aus den Herkunftsorten der Eintragenden aufgezeigt, wobei die Wiederverwendbarkeit von aktuell ungenutzten Daten dargelegt werden konnte. Neben Fragen zum Besucherpublikum, ihrem Interesse und Zugang zur Bibelsammlung sowie dem Sammlungskontext stand die Verwendung des Gästebuchs entlang von Gattungsgrenzen und einem möglichen Funktionswandel im Mittelpunkt des Beitrags.

Der Vortrag von SVEN LIMBECK (Wolfenbüttel) diskutierte gerade diese Intermedialität und materielle Hybridität der Alba Amicorum. Dabei wurde das Stammbuch aus mediologischer Perspektive als multifunktionale Sammelform gezeigt, das in inhaltlich und materiell vielseitiger Gestalt eine bedeutende Quelle für die transdisziplinäre Forschung darstellt. Die Alben seien weniger unter ihrem Objektcharakter als Bücher zu betrachten, vielmehr in ihrer Funktion als Kommunikationsmedium zu verstehen, deren buchförmiges Behältnis die Sammlung unterschiedlichster Inhalte aufbewahrte. Das Stammbuch als multimediale „Buchsimulation“ sollte folglich nicht nur als textgebundene Schriftquelle angesehen werden, sondern in einem sozio-ökonomischen Kommunikationsprozess begriffen werden.

Ein weiteres Beispiel, wie die durch die Stammbuchforschung generierten Daten nachhaltig gesammelt und verknüpft werden können, zeigte ANDREAS SCHLÜTER (Weimar), der das Vorhaben des neuen Thüringer Stammbuchportals in seinen Anforderungen und Herausforderungen vorstellte. Dem Ziel, die Stammbuchbestände aus über 500 Thüringer Kultureinrichtungen zu erfassen und für die breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen, stellt sich das Projekt der Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Klassik Stiftung Weimar: Mithilfe der Datenverarbeitung über Kulthura als digitales Kultur- und Wissensportal Thüringen soll ein Online-Portal mit übergreifenden Suchfunktionen, der Bereitstellung von Digitalisaten, ex- bzw. internen Datenverknüpfungen und weiteren ergänzenden Informationen zu den Stammbüchern entstehen. In diesem Zusammenhang kam auch die Forderung nach einem allgemein gültigen Datenmodell zur Sprache.

Der zweite Themenschwerpunkt befasste sich mit Stammbüchern und Netzwerken: Im Vortrag von PHILIP HAAS (Wolfenbüttel) konnte die Bedeutung des Stammbuchs als Quelle zur Patronage- und Klientelforschung in Verbindung mit dem frühneuzeitlichen Städtetyp der Autonomiestadt aufzeigt werden. Präsentiert wurden Untersuchungen zum politisch-diplomatischen Stammbuch des Braunschweiger Bürgermeisters Franz Dohausen (1605-1673) und den darin sichtbar werdenden sozialen Verflechtungsstrukturen. In der Kontextualisierung mit weiteren archivalischen Quellen wie Rechnungen, Briefen sowie Bittschreiben konnten anhand des Stamm- und Gästebuchs die Persönlichkeit Dohausens als herzoglicher Agent sowie politischer Akteur greifbar gemacht und seine Interessen im Klientelverhältnis offengelegt werden.

ROBYN DORA RADWAY (Wien) veranschaulichte die transkulturellen Verbindungen zwischen den mitteleuropäischen, von Habsburgern regierten Territorien und dem Osmanischen Reich, die in Stammbüchern des 16. Jahrhunderts sichtbar werden. Um die sozialen Netzwerke des Deutschen Hauses in Konstantinopel sowie den grenzübergreifenden Gebrauch von Alba Amicorum unter Miteinbeziehung von Reiseberichten zu erforschen, wurden Ansätze der Digital Humanities angewandt. Demonstriert wurden Möglichkeiten der digitalen Forschungsmethoden als Hilfsmittel zur Untersuchung bzw. Visualisierung von Personengruppen und wiederkehrenden Bildtypen mithilfe von Netzwerkgraphen. Im Zuge dessen wurde auf Standardisierungsprobleme und die Herausforderungen bei der Analyse mit Big Data in der Stammbuchforschung aufmerksam gemacht.

Die Erforschung von albuminternen Netzwerken stellte JULIAN SCHULZ (Bonn) anhand seines Dissertationsprojektes zum Stammbuch des Georg Birkel vor, die durch Leichenpredigten, Universitätsmatrikel sowie weitere Libri Amicorum ergänzt wird: Die digitale Transkription und Edition über das Tool Squirrel sowie die prosopographische Erschließung der Stammbuchträgerschaft erlaubt einen Einblick in Birkels ego-zentriertes Netzwerk und liefert wichtige Informationen zu seiner bisher nur wenig dokumentierten Biographie. Die von 1599 bis 1616 gesammelten rund 860 enthaltenen Einträge sollen Aufschlüsse über ausgewählte Inskribenten, die Reiseanlässe und insbesondere die Rolle Venedigs in Bezug auf die Grand Tour geben. Die Analyse der Stammbuchsprüche und Dedikationspassagen sowie ihre Klassifikation in der Differenzierung zwischen Nähe und Ferne zeichnen ein Bild Birkels als Faktor, Agent und Freund.

In seinem öffentlichen Abendvortrags erläuterte der Stammbuchforscher und Initiator der internationalen Stammbuch-Datenbank Repertorium Alborum Amicorum (RAA) WOLFGANG WILHELM SCHNABEL (Erlangen) die Geschichte, den Stand und die Perspektiven der Erschließung und Erforschung der Freundschaftsalben von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Der Themenüberblick reichte von der Entstehung der Stammbuchsitte im protestantischen Milieu über das Aufkommen von Stammbuchdrucken, sowie der systematischen Analyse ab der ersten wissenschaftlichen Abhandlung von Michael Lilienthal im 18. Jahrhundert bis zur Popularisierung mit dem Einhergehen der sozialen und regionalen Ausweitung ab dem späten 19. Jahrhundert. Das damit gestiegene Interesse an den Alben förderte die private und öffentliche Sammeltätigkeit, Katalogisierung und Ausstellung. Schnabel schilderte die Ausdifferenzierung von Fragestellungen unterschiedlicher Forschungsdisziplinen und die Vervielfältigung von Untersuchungsinteressen aufgrund der großen Variationsbreite an Gestaltungselementen und Überschneidungsbereichen mit anderen Sammlungsformen. Der Entwicklungsschub für die Stammbuchforschung durch die beiden Wolfenbütteler Tagungen 1978 und 1986 brachte ab 1998 die weltweit bedeutendste, öffentlich zugängliche Online-Datenbank RAA hervor. Zentral erscheint bis dato die Frage nach den Funktionen und Motivationen sowie dem inneren Kommunikationsgefüge der Stammbücher, die bereits für Zeitgenossen ein Rätsel darstellten.

Am 23. März wurde die Tagung im Bibelsaal der Biblioteca Augusta fortgesetzt. Die dritte Diskussionsrunde war der bildenden Kunst und der Musik gewidmet. MARIKA KEBLUSEK (Leiden) stellte die Bedeutung von visuellen Elementen in frühneuzeitlichen Stammbüchern in ihrer Verwandtschaft mit Wappen-, Emblem- sowie Kostümbüchern heraus. Hervorgehoben wurde die Rolle der Alben als Bildersammlungen. Mit anschaulichen Beispielen wurden dem Publikum visuelle Netzwerke vor Augen geführt: Dabei konnten die Verknüpfungen von Bildinhalten und Darstellungstypen in unterschiedlichen Medien, Orten und Kontexten, auch außerhalb der Stammbücher, deutlich gemacht werden. Aufgezeigt wurde etwa der Bildtransfer zwischen den meist von anonymen Briefmalern gefertigten Stammbuchminiaturen und den weit verbreiteten Druckgraphiken.

Dass Alba Amicorum als Kunst- und Wertobjekte aufgefasst werden können, bewies der Beitrag von SABINE JAGODZINSKI (Wolfenbüttel) zum Großen Stammbuch Philipp Hainhofers, eines der prächtigsten überlieferten Freundschaftsalben überhaupt. Die Bildauswahl der kunstvoll verzierten Seiten mit einer Fülle von künstlerischen Techniken, unter anderem Mikrographie und Seidenmalerei, veranschaulichten die Sammlung von Einträgen hochrangiger Persönlichkeiten, wie Herzögen, Fürsten, Königen und Kaisern. Erklärt wurde der Aufbau und die Nutzung der zeitnah veröffentlichten Website zum auf drei Jahre angelegten Tiefen-Erschließungsprojekt des Großen Stammbuchs: Neben dem Digitalisat beinhaltet die Website unter anderem kommentierte Transkriptionen, die Verschlagwortung mit Normdaten, Vergleichsabbildungen und Literaturangaben. Leser:innen erhalten zudem Informationen zu Besonderheiten, Kontexten und Bezugspunkten innerhalb des Albums. Durch das Projekt werden neue Künstlerzuschreibungen und die Rekonstruktion verlorener Inhalte möglich.

Mit WOLFGANG FUHRMANN (Leipzig) rückten nun die auditiven Gestaltungselemente in den Fokus der Betrachtungen. Unter dem Titel „Mobile Musik. Fragmentarische Formen und translokale Gemeinschaften im 19. Jahrhundert.“ wurden Fragen nach der Alltagspraxis und Verwendung von Philotheken im Spannungsfeld zwischen repräsentativer Öffentlichkeit und Intimität diskutiert. Musikstammbücher waren mit handschriftlichen Einträgen von Musikern oder mit Musiknoten ausgestattet, welche die Betrachtenden teils zum Entschlüsseln, musikalischen Späßen und Rätseln einluden. Mithilfe ausgewählter Stammbucheinträge konnten Autographen berühmter Musiker sowie Musikausschnitte im Zusammenhang mit menschlichen Netzwerken unterschiedlicher Personenkreise und Stammbuchbesitzer:innen aufgezeigt werden.

Thematische Anknüpfungspunkte schuf KATERYNA SCHÖNING (Wien) in ihrer Präsentation zu den Wechselwirkungen zwischen Alba Amicorum und Lautentabulaturen im 16. Jahrhundert. Künstlerische Bestandteile der frühneuzeitlichen Stammbücher waren Bilder mit eingefügten Noten sowie Darstellungen von Musizierenden, Noteneinträge und Lautentabulaturen. Die Notation von Musikstücken in der Verschränkung mit Philotheken ist in unterschiedlicher Ausprägung zu finden. Zu klären ist etwa, ob es sich dabei um Stammbücher mit integrierten bzw. angebundenen Lautentabulaturen oder um Lautentabulaturen bzw. Liederbücher mit Elementen von Libri Amicorum handelt.

Einen Höhepunkt der Tagung bildete die Präsentation von ausgewählten Doppelseiten des originalen Großen Hainhofer-Stammbuchs im Lesesaal der Herzog August Bibliothek, das von SABINE JAGODZINSKI zu den jeweiligen Einträgen begleitet wurde. Vorgestellt wurden das Porträt des Kaisers Rudolf II. in Seidenmalerei und die anbei befindliche Miniatur seiner Krönung im Kreis von sechs Kurfürsten, versehen mit seiner eigenhändigen Unterschrift. Gezeigt wurde zudem die in eine heraldisch-allegorische Darstellung eingebettete Inskription Herzog Philipps II. von Pommern Stettin und sein in Mikrographie ausgeführtes Porträt, bestehend aus kunstvoll drapierten, religiös-philosophischen Textelementen. Dem Publikum dargeboten wurden darüber hinaus zwei unabhängige Einträge: die Federzeichnung Lucas Kilians mit Obelisken-Motiv für Herzog August den Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg und die Wappendarstellung mit weiblichen Figuren der Herzoginwitwe Ursula zu Württemberg, Pfalzgräfin bei Rhein.

Eingeleitet wurde das vierte Themenfeld zu Materialität und Performanz durch KARIN ECKSTEIN (München). Im Fokus der Untersuchungen stand der Jüngere Titurel aus der Bayerischen Staatsbibliothek und die Neuverwendung bzw. Funktionserweiterung jener spätmittelalterlichen Handschrift zu einem zeitweise dicht beschriebenen Stamm- bzw. Gästebuch in einer späteren Nutzungsphase. Thematisiert wurden die restauratorischen Beobachtungen der teils fragmentarischen Text- und Bildausstattung aus der frühen Neuzeit und die möglichen Motive für die über mehrere Generationen reichende Umnutzung des üppig mit Miniaturen ausgestatteten Epos im Familienbesitz der Fernberger zu Eggenberg.

DIETRICH HAKELBERG (Gotha) befasste sich mit den Eintragungskontexten und der Funktion des Gelehrtenstammbuchs von Johann Philipp Breyne. Mithilfe von erhaltenen Reisetagebüchern und Empfehlungsschreiben konnten die Reisestationen des Danziger Botanikers von 1702 bis 1704 rekonstruiert werden. Breyne nutzte das Gelehrtennetzwerk des Vaters nach und erweiterte dieses unter anderem durch Besichtigungen von naturwissenschaftlichen Sammlungen und Gärten. In Kombination mit seinen Reiseberichten konnte ein Bild seiner Person und die Reiseroute des Naturforschers quer durch Europa zum Zwecke der Fortbildung und Kontaktaufnahme gewonnen werden. Insbesondere beschäftigte die Fragestellung, welcher Inskribent sich bei welchen Gelegenheiten eingetragen hatte oder auch nicht.

MICHAEL WENZEL (Wolfenbüttel) beleuchtete in seinem Vortrag die Stammbuchpraxis der kunstdiplomatischen Vermittler-Persönlichkeit Philipp Hainhofer aus Augsburg. Neben dem hinzugezogenen, selbstrepräsentativen Reisetage- und Reisehandbuch (Reiserelationen) dokumentieren Hainhofers Freundschaftsalben, besonders das Große Stammbuch, die Besuche europäischer Herrscher und Höfe. Kernfragen des Vortrags bildeten die Auseinandersetzung mit Hainhofers Akquise von Stammbucheinträgern und den Strategien, durch welche sich das Album zu einem politisch wirkmächtigen agency tool entwickelte. Somit stellte sich nicht nur Hainhofer in seiner diplomatischen Reise- und Agententätigkeit (u.a. für Philipp II. von Pommern-Stettin) als Akteur heraus, sondern vielmehr wurde das Große Stammbuch als eigenständiger Aktant sowie als grenzüberschreitendes Objekt politischen Handels in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges sichtbar.

Am 24. März war das NLA in Wolfenbüttel Gastgeber der Tagung. Im fünften Panel stand zunächst die sprachliche und literarische Praxis in Stammbüchern im Mittelpunkt der Betrachtungen: SEBASTIAN CÖLLEN (Uppsala) referierte über die Strategien der Selbststilisierung in deutschsprachigen Stammbucheinträgen des 17. Jahrhunderts. Mittels verschiedener Sprachen erfolgte die Selbstdarstellung und -inszenierung sowie Konstruktion der eigenen Persona wie eine Theatermaske auf der halböffentlichen Bühne des Stammbuchpublikums. Die Wahl der Sprache konnte mit dem Fokus auf mehrsprachige Stammbücher der frühen Neuzeit in schwedischen Sammlungen analysiert werden. Beobachtet werden konnte der Einsatz der deutschen Sprache vor allem bei humoristischen und auf Innerlichkeit bzw. Emotionalität ausgerichteten Texten, die situationsbezogene Unmittelbarkeit und persönliche Nähe ausdrücken oder simulieren. Dahingegen sollten etwa klassische Sprachen, wie Latein, Gelehrsamkeit und Selbstbeherrschung suggerieren.

Die Verwendung romanischer Sprachen in Stammbucheinträgen der Weimarer Stammbuchsammlung wurde von REMBERT EUFE (Tübingen) untersucht und der Tübinger Stammbuchsammlung gegenübergestellt. Der Vortrag gab einen Überblick über die prozentuale Gewichtung des Sprachgebrauchs in den ausgewerteten Textelementen: Zum Vorschein kam die große Bedeutung von klassischen Sprachen, Sprachen der christlichen Tradition und Sprachen aus nicht lateinischen Schriftsystemen, die als Sammlerstücke galten. Besonders von süddeutschen und österreichischen Inskribenten wurden Einträge mit Italienisch präferiert, an deren Beispielen das sprachliche Niveau der Eintragenden und die mündliche Tradition offenkundig wurden. Vor allem wurde Mehrsprachigkeit mit italienischen und französischen Textelementen um des sozialen Prestiges willen inszeniert, deren meist kurze Textpassagen sich auch ohne direkte Sprachkenntnisse zum Abschreiben eigneten. Durch das Stammbuch, welches als Quelle für die Sprachenforschung gilt, wurde Freude an Sprachen und Mehrsprachigkeit ausgedrückt.

Landesübergreifende, literarische Netzwerke vom 16. bis ins 19. Jahrhundert zeigte hingegen MAGNUS ULRICH FERBER (Wolfenbüttel/ Bonn) auf. Anhand der Stammbuchsammlung des NLA Wolfenbüttel wurden literarische Strömungen unterschiedlichster Sprachgesellschaften und Gruppen vom Barock bis zur Romantik fassbar gemacht. Nachverfolgen ließ sich neben dem Wandel des Stammbuchgebrauchs, etwa in der Länge bzw. Gestalt der Einträge, dass die präsentierten Libri Amicorum als Autographensammlungen bekannter und heute in den Hintergrund getretener Schriftsteller dienten. In jenen Freundschaftsalben verewigten sich nicht nur Persönlichkeiten, wie Lessing, sondern es definierten sich Gruppenidentitäten durch literarische Beiträge und in der Wahl von Textzitaten zeitgenössischer bzw. klassischer Autoren. Kontextualisiert wurden diese Erkenntnisse etwa durch weitere literarische Quellen, wie Zeitschriften, in Zusammenhang mit Gruppierungen wie dem Göttinger Hainbund und Vertretern des Braunschweiger Collegium Carolinum.

Daran anschließend fand eine Führung durch die kleine Ausstellung Monumente der Freundschaft im Ausstellungssaal des Niedersächsischen Landesarchivs statt, die noch bis 30. Juni 2023 zu sehen sein wird. Sorgsam ausgewählte Beispiele der über dreihundert Objekte aus der internen, mithilfe der DFG aktuell erschlossenen und digitalisierten Stammbuchsammlung in Wolfenbüttel wurden durch Herrn FERBER und Herrn HAAS vorgestellt. In der Kontextualisierung mit Objekten aus dem Kreis- und Universitätsmuseum Helmstedt wurden insgesamt sieben Themenschwerpunkte beleuchtet: Eine Einleitung in die Materie Stammbuch, die Entstehung der Sammlung, ältere Stammbuchformen und der Weg zur Textgattung, die Gestaltung der Einträge, politische Stammbücher, Stammbücher von Frauen, Rezeption und Traditionslinien in Poesiealben und Social Media.

Im letzten Themenbereich wurden ausgewählte Sammlungen und ihre Bearbeitung erörtert. Recherchemöglichkeiten für Stammbücher aus schwedischen Sammlungen zeigte DANIEL SOLLING (Uppsala) mithilfe des Online-Portals Alvin auf, das sich der Digitalisierung und Verbreitung von Kulturerbe widmet. Mittels bedeutsamer Stammbuchexemplare konnte ein Einblick in die Sammlung der Universitätsbibliothek Uppsala gewährt und auf deren Vielfalt aufmerksam gemacht werden. Eine Besonderheit bildete der Stammbuch-Zwillingsband von Erik Drake af Hagelsrum, in welchem die Eintragenden nach ihrem Geschlecht separiert wurden. Solling gab Aufschluss über die Sammlungsschwerpunkte sowie die Katalogisierung und Erschließungspraxis der Stammbuchsammlung der Universitätsbibliothek Uppsala.

Durch KATHARINA BEIERGRÖßLEIN (Stuttgart) wurden Stammbücher im Kontext kommunaler Überlieferungen am Beispiel der Stammbuchsammlung des Stadtarchivs Stuttgart präsentiert. Die derzeit 79 Sammlungsobjekte vom späten 17. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, die unter dem Stichwort „Stammbuch“ erforscht werden, wurden anhand der Häufigkeit von Namensnennungen im Hinblick auf ihre sozialen Netzwerke untersucht. Eine Graphenanalyse, in der Namenswiederholungen ausgewertet wurden, zeigte überraschende Ergebnisse: Die Clusterbildung offenbarte zeitübergreifende, direkte und indirekte Verbindungen zwischen den vornehmlich weiblichen Stammbucheinträgerinnen und den Hauptakteurinnen als „Spinnen“ im sozialen Netzwerk der Stammbuchsammlung.

Einen Überblick über die Freundschaftsalben und Stammbuchblätter der Staatsbibliothek Bamberg aus dem 16. bis 20. Jahrhundert ermöglichte BETTINA WAGNER (Bamberg), die Glanzpunkte der Sammlung, wie die Rosendarstellung von Maria Sibylla Merian, präsentierte. Berichtet wurde über die Entstehung der Sammlung sowie über das geplante Forschungsprojekt in der Förderung der Fritz-Thyssen-Stiftung ab Juli 2023 mit dem Ziel der Digitalisierung sowie der Grund- und Tiefenerschließung der Bamberger Stammbuchbestände. Die Vortragende gab einen Ausblick auf die Veröffentlichung der Ergebnisse über die Verbunddatenbank Kalliope.

In einer Zusammenfassung von PHILIP HAAS und SVEN LIMBECK wurden die wichtigsten Themen der Tagung nochmals hervorgehoben: Es konnten Ideen und bereits in der Umsetzung befindliche Projekte für die Erschließung von Stammbüchern in der sammlungs- und themenbezogenen Forschung unter den Anforderungen der jeweiligen Fachdisziplinen gezeigt werden. In ihrer medialen Hybridität konnten die Alba Amicorum entlang von Gattungsgrenzen und Überschneidungsbereichen näher definiert und mithilfe weiterer Quellen kontextualisiert werden. Neben der Forderung eines einheitlichen Erschließungsstandards wurde der Wunsch nach der Erweiterung und Erneuerung von Stammbuchdatenbanken sichtlich. Zukunftsweisend erschienen nicht nur die Bündelung und Verknüpfung von Daten in gemeinsamen Datenbanken. Auch in den Untersuchungsmethoden des internationalen Fachpublikums wurde die Orientierung hin zur Digitalisierung deutlich, die neue Wege für die Stammbuchforschung eröffnet.

Konferenzübersicht:

Peter Burschel (HAB) / Sabine Graf (NLA): Begrüßung
Philip Haas (NLA) / Sven Limbeck (HAB): Thematische Einführung

Panel 1: Erschließung und Bereitstellung von Stammbüchern
Moderation: Michael Wenzel

Stephan Bialas-Pophanken (Wolfenbüttel) / Maximilian Görmar (Wolfenbüttel) / Joëlle Weis (Trier): „In dieses schöne Buch, soll ich auch etwas setzen…”. Die digitale Edition des Gästebuchs der Bibelsammlung von Elisabeth Sophie Marie von Braunschweig-Lüneburg

Sven Limbeck (Wolfenbüttel): Intermedialität und materielle Hybridität. Überlegungen zur Erschließung von Stammbüchern aus medio-logischer Perspektive

Andreas Schlüter (Weimar): Das neue Thüringer Stammbuchportal

Panel 2: Stammbücher und Netzwerke
Moderation: Magnus Ulrich Ferber

Philip Haas (Wolfenbüttel): Autonomiestadt oder Patronage und Klientel? Das politisch-diplomatische Stammbuch des Braunschweiger Bürgermeisters Franz Dohausen (1605-1673)

Robin Radway (Wien): Stammbücher als soziale Netzwerke. Möglichkeiten und Gefahren der Forschung anhand von Beispielen des Deutschen Hauses in Konstantinopel

Julian Schulz (Bonn): Faktor, Agent, Freund. Georg Birckel als Adressat von Stammbucheinträgen deutscher Venedigbesucher am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges

Öffentlicher Abendvortrag
Moderation: Philip Haas

Werner Wilhelm Schnabel (Erlangen): Stand und Perspektiven der Erschließung und Erforschung von Stammbüchern

Panel 3: Kunst und Musik in Stammbüchern
Moderation: Kerstin Losert

Marika Keblusek (Leiden): Images on the Move. Early Modern Stammbücher as Visual Networks

Sabine Jagodzinski (Wolfenbüttel): „eximii monumenta favoris“. Erschließung und Erforschung des Großen Stammbuchs Philipp Hainhofers

Wolfgang Fuhrmann (Berlin): Mobile Musik. Fragmentarische Formen und translokale Gemeinschaften im 19. Jahrhundert

Kateryna Schöning (Wien): Lautentabulatur – Liber amicorum – Stammbuch. Mediale und materielle Ausprägung im 16. Jahrhundert und die Rolle des interdisziplinären Erinnerungs-modus

Präsentation des Großen Hainhofer-Stammbuchs

Panel 4: Materialität und Performanz
Moderation: Brage Bei der Wieden

Karin Eckstein (München): „durch frühere Besitzer verunstaltet“. Der Jüngere Titurel der Bayerischen Staatsbibliothek und seine Erschließung für die Stammbuchforschung

Earle Havens (Washington): Confessional Identity and Material Adaption. Printed and Interleaved Emblem Books Used as Alba Amicorum

Dietrich Hakelberg (Gotha): Stammbuch und Tagebuch im Gepäck. Mit dem Botaniker Johann Philipp Breyne auf Reisen, 1702-1704

Michael Wenzel (Wolfenbüttel): Das Album Amicorum als agency tool. Selbstrepräsentationen seiner Stammbuchpraxis in Philipp Hainhofers Reiserelationen

Panel 5: Sprachliche und literarische Praxis in Stammbüchern
Moderation: Sabine Jagodzinski / Sven Limbeck

Sebastian Cöllen (Uppsala): Maskenspiele. Strategien der Selbststilisierung in deutschsprachigen Stammbucheinträgen des 17. Jahrhunderts

Rembert Eufe (Tübingen): Die Verwendung romanischer Sprachen in den Stammbüchern der Weimarer Sammlung

Magnus Ulrich Ferber (Wolfenbüttel/Bonn): Literarische Netzwerke. Sprachgesellschaften und literarische Strömungen im Spiegel der Stammbuch-sammlung des NLA Wolfenbüttel

Präsentation der Wolfenbütteler Stammbücher (Führung durch die kleine Ausstellung)
Magnus Ulrich Ferber / Philip Haas

Panel 6: Ausgewählte Sammlungen und ihre Bearbeitung
Moderation: Eva Raffel

Daniel Solling (Uppsala): Die Digitalisierung und Katalogisierung der Stammbuchsammlung der Universitätsbibliothek Uppsala (Schweden)

Katharina Beiergrößlein (Stuttgart): Das Stammbuch als Spinne im Netz der Bestände. Stammbücher im Kontext kommunaler Überlieferung am Beispiel der Stammbuchsammlung des Stadtarchivs Stuttgart

Bettina Wagner (Bamberg): Die Stammbuchsammlung der Staatsbibliothek Bamberg

Zusammenfassung
Philip Haas / Sven Limbeck

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